Seelenspiegel

Prolog

20. November

Ich weiß, es ist kindisch, Tagebuch zu führen. Alle seine Sorgen und Beschwerden einem weißen Blatt Papier anzuvertrauen. Aber ab diesem Tag gebe ich diesem Buch einen neuen Namen: Seelenbuch. Vielleicht ist mir noch eine Seele geblieben. Ein Herz habe ich garantiert nicht mehr. Fraglich, ob diese Seiten jemals gelesen werden, durchweicht vor Tränen. Ich weine. Immer öfter. Grundlos. Und wenn ich einen Grund dazu habe weine ich nicht. Ich schlafe kaum, schreibe nicht mehr. Keinen einzigen Buchstaben. Ich lese immer seltener, als hätten sich meine Augen abgewöhnt von Zeile zu Zeile zu springen, die Wörter gierig zu verschlingen. Es ist, als wäre ich von Drogen abhängig. Ich verliere an Konzentration, Ausdauer, Kondition. Ich träume nicht mehr, ich lebe von nichts, mein Herz schlägt in einem seltsam kalten, eintönigen Rhythmus. Immer seltener habe ich das Gefühl, geborgen zu sein, einen angestammten Platz zu haben. Alles in meinem Leben verliert an Wert. Ich verliere das, was einem Menschen wichtig ist: Freude, Traurigkeit. Liebe, Mitgefühl. Alles was ich esse nimmt einen schalen Geschmack an. Abwechselnd ist mir heiß und kalt, nach jeder Nahrungsaufnahme ist mir schlecht. Ich beherrsche die Sachen nicht mehr, die ich früher gut konnte. Nichts hat mehr eine Bedeutung für mich. Ich lache selten, es war lange her als ich das letzte Mal Spaß hatte. Meine Augen brennen als hätte jemand Salz in sie gestreut. Manchmal sitze ich da und starrte in die Luft, frage mich warum ich lebe. Warum Gott so etwas erschaffen hat. Frage mich, ob ich nicht übertreibe. Desto länger ich nachdenke, desto klarer kann ich erkennen, dass ich untertreibe. Mein Inneres stirbt langsam ab, und es wird nicht viel mehr als eine leere Hülle bleiben. Ich verliere an Kraft, Tag für Tag. Ich kann mich nicht wehren. Nicht gegen die Wahrheit. Klammere mich an die Hoffnung wie ein Ertrinkender ein Brett. Sie ist eines der wenigen Dinge die mir geblieben sind. Nichts und niemand kann mir helfen, das zu sein was ich einmal war. Mein Ich zu finden. Dieses dunkle Etwas überrollte mich, drang von allen Seiten in mich ein. Es sagte mir, ich könnte mehr sein als nur das dumme kleine Mädchen, das sich nicht traut das Maul aufzureißen. Etwas Besonderes zu sein. Diese Vorstellung gefiel mir. Aber es änderte sich nichts. Ich besserte mich nicht. Im Gegenteil. Ich wurde eiskalt, herzlos. Ich hätte es gerne bereut. Wenn ich könnte. Ich würde nie etwas Besonderes sein. Immer würde ich das dumme, unsportliche, schrecklich aussehende Mädchen bleiben. Ein schüchternes Mädchen das alle ignorieren. Alle meine Erinnerungen versiegen. Was habe ich mir gewünscht, als ich klein war? Von welchen fabelhaften Erscheinungen hatte ich fantasiert? Ich weiß es nicht. Die Hoffnung schwindet, die Tage werden kälter. Die Hoffnung, die bekanntlich zuletzt stirbt. Meine Hoffnung liegt im Sterben. Und mit ihr das, was ich bin.

Am Ende der Stunde wollte ich mein Handy aus meiner Schultasche ziehen, als ich etwas bemerkte: Zettel, zerknittert und zerrissen. Es waren drei von Lous Zeichnungen, an denen sie Monate lang gefeilt und radiert hatte.
Ihr Unterkiefer klappte nach unten und sie starrte die Fetzten ungläubig an. Sie wandte sich zu Eric und zischte: „Hast DU das gemacht?“ Doch Eric unterhielt sich mit Ralph und hörte ihr nicht zu. Das brachte Lou zur Weißglut und sie schnappte sich Kurzerhand sein Mathebuch. In der darauffolgenden Stunde nahm Eric schlichtweg meines und wollte es nicht mehr zurückgeben.
Lou legte die Fetzen der drei Zeichnungen neben ihr auf den Tisch und starrte mit leicht feuchten Augen ins nichts. „Das zahl ich dem heim“, zischte sie gepresst. Als Eric nicht hersah, schnappte sie sich die Zettel auf die er diese Schulübung gekritzelt hatte (seine Schrift war unglaublich krakelig – eindeutig Junge) und zerriss sie.
Die Überreste schmiss sie in das nächstbeste Bankfach und schnaubte verärgert. Kurz darauf kam Mr. Mathe wieder in die Klasse und als er die Fetzen von Lous schönen Zeichnungen sah, fragte er mit einer Stirn, deren Falten sich zum Grand Canyon verzogen hatten: „Das war Eric, oder?“
Lou nickte grimmig und er ging zu dem Jungen. „Eric Parker, du kommst mit mir zu einem … kuren Gespräch auf den Gang.“
Eric warf Lou einen vernichtenden Blick zu, den sie kühl konterte und folgte dem Professor, der schnell noch frei Nummern auf die Tafeln schrieb.
Seine Schrift war leider nicht um viel besser als Erics, doch daran konnte man sich gewöhnen. Alle Augen der Kinder in dieser Klasse ruhten auf Dem Jungen und Lehrer, die gemeinsam auf den Kühlen Gang traten.
Ich nahm mein Buch von seinem Platz und schlug es bei den bestimmten Nummern auf. Kurz drauf (ich hatte gerade mal die Angabe abgeschrieben) kamen die beiden zurück und Camilla musste auf den Gang.
Sie ging durch die Klasse, als wäre der kurze Weg zwischen Bänken und Tür ein Laufsteg und zog eine gelangweilte Miene. Ich drehte mich um und mein Blick viel auf Caitlyn, die nur die Schultern zuckte und dann auf die Tafel starrte. Oder war es durch die Tafel? Das Mädchen schien gerade in einer ganz anderen Welt zu schweben – und ich war sicher dass es dort keine Folter wie Mathe gab.
Als Camilla wieder in die Klasse schwebte musste Lou ihren Platz verlassen und an dem wutschnaubendem Eric vorbei zum Professor gehen. Ich zerbrach mir den Kopf, um zumindest ein Beispiel zu rechnen. Ich hörte wie sich Constanze und Melanie, die sich über das Endergebnis bei Nummer e stritten. Und ich saß da und starrte diesen verdammten Term bei Nummer a an.
„Jane?“, ertönte die tiefe Stimme des Lehrers und ich riss den Kopf hoch.
„Wenn du mir bitte folgen könntest…?“, sagte er und ich stand auf und quetschte mich an Lou vorbei.
Sofort als ich außerhalb meiner Klasse war fragte der Lehrer: „Und, kannst du mir bitte das Ganze noch einmal aus deiner Sicht beschreiben?“
Ich überlegte kurz und sagte dann: „Na ja … ich hab eigentlich nur Camilla und Eric zugesehen, dann hat mich ein Stift getroffen und ich hab ihn zurückgeworfen. Am Anfang war das alles nur ein Spiel, einfach nur Spaß. Dann hat Eric Lous Zeichnungen genommen und wir sind ihm nach. Dann war Stunde und wir sind in die Klasse gegangen – den Rest kennen Sie schon. Ehrlich gesagt, aus meiner Sicht trage ich nicht die allergrößte Schuld, ich will aber niemanden beklagen oder so, wenn sie verstehen…“
Er nickte nur und zeigte einfach auf die Klasse. „Okay, danke Jane.“ Das war alles. Erleichtert atmete ich auf und ließ mich auf meinen Platz fallen.
„Und?“, flüsterte Lou. „Schlimm?“ Ich schüttelte nur den Kopf und schrieb die Ergebnisse von ihr ab.
Eric starrte böse auf sein Heft und sagte nichts mehr.

Jane führt ein Leben, dass nicht normaler sein kann: alles dreht sich um Schule, Freunde und so einen Kram.
Doch Jane ist kein normales Mädchen. Dieses ganze Geschehen um sie herum ist ihr vollkommen egal. Sie versucht, dieses Geheimnis vor der Öffentlichkeit zu 'verbergen' und nur ihre allerbeste Freundin Lou weiß davon.
Doch als Janes Vater bei einem Unfall ums Leben kommt, kann sie ihre Herzlosigkeit nicht mehr im Bann halten.
Und was Jane darauf erfährt, verändert ihr Leben schlagartig:
In ihrer frühen Kindheit war Jane das liebste Mädchen in der Gegend. Sie konnte wortwörtlich keiner Fliege was zuleide tun, fühlte mit anderen mit, erlitt ihren Schmerz und lachte wenn diese lachten. Sie war gütig, hilfsbereit und hatte ein offenes Herz für jeden. Alle mochten sie, und sie wiederum mochte jedes Geschöpf dieser Erde.
Doch nach genau diesen Menschen suchen die Seelenjäger, ein uraltes unsterbliches Volk Als sechsjährige nahmen sie Jane gefangen und raubten ihre Seele, und übrig blieb das eiskalte Mädchen.
So macht sich Jane mithilfe ihrer Freundin Lou auf die Suche nach ihrer Seele - und somit ihrem Herz - und trifft auf unerwartete Hindernisse ...

Als ich von der Schule nach Hause kam, sah ich das mir meine Mutter eine SMS geschrieben hatte.
Ich klickte sie an und las:
Alex ist bei seinem Freund. Koche nur für dich, LG
Zuerst war mir diese Nachricht ziemlich egal, bis mir auffiel dass ich den Hausschlüssel vergessen hatte. Ich stand also vor dem verschlossenen Haus, mein Vater war im Ausland, meine Mutter arbeitete bis fünf Uhr nachmittags und mein kleiner Bruder (der allerdings den Schlüssel hatte) verkroch sich zu seinem Freund.
Meine Englischsachen waren im Haus eingeschlossen und ich konnte weder lernen noch sonst was machen.
In dieser – Notsituation – griff ich zu meinem Handy, dessen Akku auszugehen drohte und rief meine Mutter an.
Nach dem dritten Läuten nahm sie ab und sagte mit leicht genervter Stimme: „Ja
Jane, was ist denn?“
„Mama … sorry, ich … ich hab meinen Schlüssel vergessen!“, stotterte ich. Lange Zeit sagte meine Mutter gar nichts.
Dann seufzte sie und meinte: „Ich komme sofort nach Hause. Warte auf mich, in einer Dreiviertelstunde bin ich da.“
Dann legte sie auf. Einfach so. Ich starrte das Display meines Handys ungläubig an, und empfand so etwas wie ein klitzekleines Schuldgefühl. Meine Mutter arbeitete Tag und Nacht, dafür dass wir uns finanziell über Wasser halten konnten, und ich stand da wie ein riesengroßer Stein mitten auf der Straße.
Ich setzte mich auf die Schaukel vor dem Haus und sah die verdorrenden Gräser und Büsche an, ohne sie richtig wahrzunehmen.
Ich versuchte, über diese Situation nachzudenken aber meine Gedanken schweiften immer wieder in eine andere Richtung.
Es schien kaum eine Minute vergangen zu sein, da hörte ich das vertraute Motorengeräusch unseres Autos und der uralte mitternachtsblaue VW fuhr neben mich und kam dort zum Stillstand.