Tochter der Nacht

Prolog
Es war eine dunkle, kalte Nacht. Eine Nacht, in der man lieber zu Hause vor dem Fernseher saß. Eine Nacht in der Gruselgeschichten beginnen, Krimis oder Vorgeschichten von Fantasyromanen.
Doch in dieser Nacht begann nichts. Etwas endete.
Elisabeth Engel, älteste von drei Schwestern und Mutter einer erwachsenen Tochter, verließ nur ungern ihr Haus. Seit dem Tag, an dem sie einen Banküberfall miterlebt hatte, traute sie niemandem mehr.
Doch in der besagten Nacht tat sie es trotzdem.
Die Dunkelheit jagte ihr keine Angst ein, in dieser Hinsicht war sie den Menschen überlegen. Natürlich war Elisabeth ein Mensch, sie hatte rotblondes Haar, graue Augen und war recht klein.
Doch jetzt leuchteten ihre Augen silbern, die sonst unscheinbare Frau bewegte sich leichtfüßig und flink.
„Hoffentlich hat der Laden noch auf!“, murmelte sie vor sich hin.
Fröstelnd schlang sie die Arme um den dünnen Körper und ging noch etwas schneller.

Ich hob die Hände und ließ mich auf mein Bett fallen. "Schon gut, schon gut!"
"Also nochmal, wer bist du?", fragte der Fremde. Ich spielte kurz mit dem Gedanken zu flüchten, aber im Notfall konnte ich mich ja wohl gegen ihn wehren. Mit einem Seufzen antwortete ich:"Merle Engel, 12 Jahre alt, Wohnhaft in unserer Hauptstadt Berlin, Tochter von Jessica und Martin Engel, Enkelin von Marie und Wolfgang Engel. Und so weiter... Irgendwelche Fragen?" Ich legte den Kopf schief und wartete. Mehr wichtige Dinge fielen mir beim besten Willen nicht ein. Höchstens das ich Thriller liebte, aber das interessierte ihn wohl kaum. Ich erwartete das er lachte oder wütend wurde, vielleicht auch das er mich anfiel um mich bei lebendigem Leib zu fressen. Doch das was er tat überraschte mich. Er senkte den Kopf und kniete nieder. "Verzeiht Herrin!"
Fast wäre ich umgekippt. Herrin? Und warum die plötzliche Freundlichkeit? "Ähm... WAS IST LOS?!"

Nelly blinzelte, als helles Sonnenlicht durch das Blätterdach über ihr brach. Das Mädchen senkte den Kopf und beschleunigte seinen Schritt.
Internat.
Hinter ihr tat es ihr ihr Vater, ein hochgewachsener Mann, gleich. Er sah nett aus, obwohl er stark schwitzte unter der last zweier Koffer und eines sechsjährigen Jungen.
Internat.
Nelly löste mit der freien Hand ihren Pferdeschwanz, sodass die blonden Strähnen ihr Gesicht umrahmten.
Internat.
Endlich war der Weg zu Ende, die Bäume wichen einer grünen Wiese. Und da war es. Ein großes, altes Haus. Nein, es war eher ein Schloss. Das eigentliche Haupthaus war umgeben von kleineren Gebäuden, von denen eines Nellys neues Heim werden sollte.
Internat. Wie sie dieses Wort hasste.
„Schickst du mir einen Brief?“, fragte Ben mit großen Augen, als er die Akademie erblickte.
„Wenn ich lange genug lebe“, meinte seine große Schwester mürrisch.
Dann beschloss sie jedoch Ben in Ruhe zu lassen. Ihre Eltern nicht, die würden noch sehen was sie davon hatten ihre einzige Tochter in dieses Irrenhaus zu schicken. Gut, nach den Vorfällen mit der Überschwemmung im Klassenzimmer und dem gefrorenen Tee war klar, das Nelly von ihresgleichen, von Magiern, unterrichtet werden musste. Doch das ihre Eltern dies nicht selbst taten, empörte sie.
Mit neun Jahren hatte sie die Harry Potter Bücher gelesen, ein Internat erschien ihr wie der schönste Ort der Welt. Doch jetzt, kurz nach ihrem 13. Geburtstag konnte sie sich nichts schlimmeres vorstellen. Kein Handynetz, keine Computer, nervige Mitschüler und fiese Lehrer. So stellte sie sich drei Monate in diesem Gefängnis vor. Erst in drei Monaten würde sie wieder nach hause kommen und ihre Freundinnen sehen... und ihre Familie.
„Ja Kleiner, ich schicke dir einen Brief“, sagte sie nun etwas freundlicher, „Pass in der Schule gut auf, dann kannst du ihn ganz alleine lesen!“
Ben machte die Schule Spaß.
Ist ja auch kein Wunder, er muss ja auch nicht auf ein Internat!
Sie hatten das Schultor erreicht und Nelly drehte sich ein letztes Mal zu ihren Begleitern um.
„Tschüss Nel!“ Ben rutschte von den Schultern seines Vaters, stellte sich auf die Zehenspitzen und bekam einen Kuss auf die Stirn. „Tschüss mein Kleiner!“ Das -immer noch wütende- Mädchen sah seinen Vater kurz an und nickte, dann nahm es ihm die Koffer ab und ging schnell in Richtung des Haupthauses. Der Schulhof war fast leer, am Sonntag waren die meisten Schüler zu Hause oder im nahe gelegenen Dorf. Nelly kam sich ziemlich doof vor, wie sie sich mit zwei großen violetten Koffern abmühte, während ihr Vater noch immer am Tor stand, und sich gleichzeitig neugierig umsah.
Der Weg, auf dem sie lief, führte bis zum Haupthaus, ansonsten gab es nur hügelige Schotterpfade zu den Wohntrakten. Der restliche Schulhof ähnelte einem Park mit alten Eichen und einem klaren Bach. Zu Nellys Überraschung entdeckte sie weder Mülleimer, noch Müll.
Magie?, dachte sie und ein Grinsen umspielte ihre Lippen.

Ich war noch nie in Ohnmacht gefallen, doch jetzt schien mir eine echt gute Gelegenheit dafür. Ich beschloss einfach still sitzen zu bleiben und zu warten, bis dieser merkwürdige Typ sich in Luft auflöste oder was Halluzinationen sonst machten. Denn so eine war er, da war ich mir sicher (auch wenn mein schmerzender Arm das Gegenteil vermuten ließ).
Doch er verschwand nicht. Er kniete weiterhin vor mir auf dem Teppich und hielt den Blick gesenkt. Wenn er wirklich denkt, das ich seine Herrin bin..., überlegte ich. "Steh auf und sag wer du bist", befahl ich. Im nächsten AUgenblick hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen, doch ich saß einfach nur weiter da und blickte den Jungen an, der sich jetzt langsam aufrichtete. Er war überrascht, das sah ich sofort, doch trotzdem machte er keinen weiteren Versuch mich anzugreifen. "Jack." Er stand kerzengerade da, trotz seiner schäbigen Kleidung wirkte er überhaupt nicht wie ein Penner. Gesicht und Hände waren sauber, seine Haut gleichmäßig gebräunt und narbenlos. Obwohl er eindeutig in meinem Alter war, war er größer und muskulöser. Er erinnerte mich an jemanden.... An wen? Ich zermaterte mir das Hirn. Vergeblich. "Jack Barron", meinte er mit ausdrucksloser Miene, "Ich soll sie von hier wegbringen."
"Vergiss es! Wieso sollte ich auf dich hören? Woher weiß ich das du kein Mafiosi bist? Ok, kein Mafiosi, dafür bist du zu jung aber vielleicht... Ach egal! Ich werde jedenfalls nicht mitgehen, sei es nach Afrika oder ins Badezimmer!" Froh das jetzt alles geklärt war schloss ich die Augen und ließ mich rücklinks in die Kissen fallen.